Steiner, Marion: ‘Industrie“kultur“ oder Barbarei der Mächtigen? Kritische Überlegungen aus Sicht des Globalen Südens’. En: Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) (eds.): FUTUR21. kunst, industrie, kultur: Katalog zur Konferenz und zum Festival des Landschaftsverband Rheinland/ Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2022. Köln: Wienand Verlag, ISBN 978-3-86832-689-5, pp. 154-157.
Das Buch erschien im Rahmen des Projekts FUTUR 21 und im Nachgang zur Internationalen Fachkonferenz vom November 2021.
Abstract. “Industriekultur” als Konzept –oder auch “Industrial Heritage”– entstand in den 1970er und 80er Jahren in Ländern des Globalen Nordens. Seither wurden die Begriffe und Methoden, die in diesen spezifischen, von den wirtschaftlichen und sozialen Krisen der Zeit geprägten Kontexten entstanden sind, auf andere Regionen der Welt übertragen, ohne groß zu hinterfragen, ob dies in Anbetracht der jeweils völlig anderen Gegebenheiten und Situationen vor Ort überhaupt angemessen war und ist. Die traditionelle Fokussierung des Nordens auf die Erzählungen von technischer und wirtschaftlicher Innovation, die Empfängergesellschaften weltweit Wachstum und Modernität beschert hätte, wie auch die Heldenerzählungen von den großen Männern in diesen Geschichten vom ewigen Fortschritt und Wachstum, verstellen bis heute den Blick darauf, dass in der sogenannten „unterentwickelten“ Welt womöglich eigene Vorstellungen für die Zukunft existierten – von alternativen Modernen, deren lokale Entwicklungslinien mit der Ankunft der Moderne nach westlichem Vorbild und des extraktivistischen Modells europäischer Prägung ein häufig abruptes und zu häufig auch ein gewaltsames Ende fanden.
In einer globalen Industrial-Heritage-Gemeinschaft hingegen sollte es in Zukunft möglich sein, den begrenzten und selbstbezüglichen Blick des Nordens aufzubrechen, um endlich in aller Offenheit auch die Schattenseiten dieses Modernitätsversprechens zu bearbeiten, das die Menschheit letztlich, bei genauerer Betrachtung, als globale Schicksalsgemeinschaft vor nahezu unlösbare Aufgaben gestellt hat – wie die Bewältigung des Klimawandels, Hunger, Staatsverschuldung und Korruption, sozialer Ungleichheit und als Folge daraus immer neuer Kriege. Mehr denn je ist es heute an der Zeit, neue Narrative zu entwickeln und ihnen Deutungsmacht zu organisieren, die eben nicht auf den superlativistischen Erzählungen von der Überlegenheit des Eigenen basieren, das meist national definiert wird, sondern die Verbindungslinien zwischen den Menschen verständlich machen, die in vielen Teilen der Welt ja durchaus ähnliche Schicksale teilen – etwa wenn es darum geht, beim Abbau von Rohstoffen ausgebeutet oder von den Mächtigen nicht gehört zu werden. Diese über alle Grenzen hinweg geteilten, kollektiven menschlichen Erfahrungen aktiv zum Gegenstand neuer Erzählungen zu machen, halte ich für eine der wichtigsten, weil friedenstiftenden Aufgaben der Industriekultur-Community unserer Zeit.
Zum Verlag: Wienand-Verlag, Köln
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